Kritik: Der Atem des Meeres

Falk Straub

spielfilm.de

Auf den ersten Blick sind das Dokumentarische und das Poetische nur schwer miteinander vereinbar – zumindest dann, wenn man den Dokumentarfilm als eine Gattung betrachtet, die nüchtern und sachlich Fakten vermittelt. Die Filmgeschichte ist reich an Gegenbeispielen. Einer, der in den beiden Kategorien keinen Gegensatz sieht, ist der Niederländer Pieter-Rim de Kroon. Seine neue Doku ist ein filmisches Gedicht aus Licht, Schatten, Stille und Geräuschen.

De Kroon hat das Wattenmeer vom dänischen Skallingen bis zum niederländischen Den Helder bereist. Die Menschen, Tiere, Pflanzen und Naturereignisse, die ihm unterwegs begegnet sind, rückt er unkommentiert und stets perfekt kadriert ins Bild. Sein Film sieht nicht nur atemberaubend aus, er hört sich auch spektakulär an. In Dolby Atmos aufgenommen, wird im Kinosaal jedes Meeresrauschen, jedes Heulen des Winds und jeder Herzschlag eines Tieres zu einem Ereignis.

Eines Kommentars bedarf es nicht. Was wir zu sehen bekommen, erschließt sich aus dem Kontext. Auch auf Interviews hat der Regisseur vollkommen verzichtet, was einen unverstellten Blick auf das Gezeigte ermöglicht. Von Wissenschaftlern, die im Wattenmeer forschen, über Fischer, die vom Wattenmeer leben, oder Militärs, die im Wattenmeer den Kampfeinsatz erproben, bis zu Touristen, die im Wattenmeer Urlaub machen, ist alles vertreten. Und dann sind da noch die Menschen, die dort geboren werden und dort sterben. Und ein Postbote, der die entlegensten Winkel mit Neuigkeiten versorgt, wenn er bei Wind und Wetter mit seiner kleinen Lore auf Schienen über die Dämme tuckert.

“Der Atem des Meeres” ist übervoll mit solch faszinierenden Bildern, an denen wir uns dennoch nie sattsehen können. Ein dokumentarisches Gedicht zum Rhythmus der Natur montiert und mit dem Spiel einer im Film gezeigten Organistin unterlegt. Ein ungemein kraftvoller Dokumentarfilm, der seine volle Wucht erst auf der großen Leinwand entfaltet und der im Original einen noch schöneren Titel trägt: “Silence of the Tides”, “Stille der Gezeiten”.

Fazit: Pieter-Rim de Kroons Dokumentarfilm bringt seinem Publikum das Wattenmeer auf ungewöhnliche Weise näher. Statt zu erklären und Menschen zu befragen, sieht dieser Film den Gezeiten einfach zu. Herausgekommen ist ein dokumentarisches Gedicht aus Licht und Schatten, Stille und Geräuschen. Jede Einstellung und jeder Ton ist ein Ereignis. Filmische Poesie im Rhythmus der Natur.

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